Nachfolgend ein Beitrag vom 25.2.2016 von Bieber, jurisPR-MietR 4/2016 Anm. 6
Leitsätze

1. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein Geschäftsraummietvertrag über die Vermietung einer Supermarktfläche in einem Einkaufszentrum eine Klausel enthält, die dem Mieter das Recht einräumt, der Vermietung von Gewerbeflächen in diesem Einkaufszentrum durch den Vermieter an andere Mieter zu widersprechen, für sich genommen nicht bedeutet, dass dieser Vertrag eine Einschränkung des Wettbewerbs im Sinne dieser Bestimmung bezweckt.
2. Geschäftsraummietverträge wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, bezüglich deren sich nach einer vertieften Prüfung des wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs, in dem sie stehen, sowie der Besonderheiten des betreffenden relevanten Marktes erweist, dass sie erheblich zu einer möglichen Abschottung dieses Marktes beitragen, können als Vereinbarungen angesehen werden, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV „bewirken“. Die Bedeutung des Beitrages des einzelnen Vertrages zu dieser Abschottung hängt u.a. von der Stellung der Vertragspartner auf diesem Markt und der Laufzeit dieses Vertrages ab.

A. Problemstellung

Konkurrenz wird von Einzelhandelsunternehmen, die in Einkaufszentren Supermärkte betreiben, nicht gerne gesehen. Vereinbarungen mit den Vermietern, die die Vermietung von Geschäftsräumen im selben Einkaufszentrum an Mitbewerber beschränken oder ausschließen, können jedoch – wie in dem vom EuGH entschiedenen Fall – zu Wettbewerbsverletzungen führen.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das im Bereich des Einzelhandels mit Schwerpunkt Lebensmittel in Lettland tätige Unternehmen „Maxima Latvija“ betreibt Supermärkte vornehmlich in Einkaufszentren. Mit verschiedenen Vermietern von Einkaufszentren schloss das Unternehmen zahlreiche Geschäftsraummietverträge, wobei in 12 Verträgen die Vermietung weiterer Gewerbeflächen in den jeweiligen Einkaufszentren an mögliche Wettbewerber von seiner Einwilligung abhängig gemacht worden war. Der lettische Wettbewerbsrat hielt diese Regelungen für wettbewerbswidrig und verhängte gegen das Unternehmen eine Geldbuße von 25.000 lettischen Lats (etwa 35.770 Euro). Maxima Latvija erhob gegen die Entscheidung Nichtigkeitsklage beim regionalen Verwaltungsgericht; dieses wies die Klage im Juni 2013 mit der Begründung ab, dass der Zweck der vertraglichen Regelungen angesichts der Marktmacht des Unternehmens auf dem Einzelhandelsmarkt darin bestehe, den Wettbewerb zu behindern, wobei es nicht erforderlich sei, mögliche Auswirkungen auf den Wettbewerb nachzuweisen. Gegen diese Entscheidung legte das Unternehmen beim Obersten Gerichtshof Lettlands Kassationsbeschwerde ein. Dieses setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: „Ist die im vorliegenden Fall geprüfte Vereinbarung zwischen einem Vermieter von Geschäftsräumen und einem Einzelhändler (Referenzmieter), die das Recht des Vermieters beschränkt, eigenständig und ohne vorherige Zustimmung des genannten Referenzmieters über die Vermietung von anderen Geschäftsräumen an mögliche Wettbewerber des Referenzmieters zu entscheiden, als eine Vereinbarung zwischen Unternehmen anzusehen, die i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt?“
Die Vierte Kammer des EuGH hat zunächst ihre Zuständigkeit bejaht. Zwar beträfen die in Rede stehenden Vereinbarungen nicht den Handel zwischen den Mitgliedstaaten. Art. 11 Abs. 1 des lettischen Wettbewerbsgesetzes lautet: „Vereinbarungen zwischen Wirtschaftsbeteiligten, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbes innerhalb Lettlands bezwecken oder bewirken, sind verboten und von Anfang an nichtig; dazu gehören insbesondere Vereinbarungen über … Handlungen (oder Unterlassungen), infolge deren ein anderer Wirtschaftsbeteiligter dazu gedrängt wird, sich aus einem bestimmten Markt zurückzuziehen, oder infolge deren der Eintritt eines möglichen Wirtschaftsbeteiligten in einen bestimmten Markt erschwert wird.“ Art. 11 Abs. 1 des lettischen Wettbewerbsgesetzes entspreche aber der Bestimmung in Art. 101 Abs. 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU), wonach mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sind, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH bestehe ein Interesse der EU daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden.
In der Sache selbst sei entscheidend, ob die Regelung in den Verträgen eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung enthalte, also in sich selbst eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen ließe, sodass eine weitergehende Prüfung ihrer Auswirkungen auf den Wettbewerb nicht erforderlich sei. Unerheblich sei allerdings, dass „Maxima Latvija“ nicht im Wettbewerb mit den vermietenden Einkaufszentren selbst stehe; der EuGH habe nämlich bereits entschieden, dass eine Fallkonstellation der vorliegenden Art eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung nicht grundsätzlich ausschließe. Auszugehen sei aber davon, dass die beanstandeten Regelungen nicht zu den Vereinbarungen gehörten, die per se als schädlich „für das gute Funktionieren des Wettbewerbs“ angesehen werden könnten. Selbst wenn die Klausel eine Einschränkung des Zugangs der Wettbewerber von „Maxima Latvija“ zu bestimmten Einkaufszentren zur Folge hätte, würde das nicht offensichtlich bedeuten, dass die zugrunde liegenden Verträge den Wettbewerb auf dem örtlichen Markt des Lebensmitteleinzelhandels beeinträchtigen würden und damit eine Einschränkung des Wettbewerbs bezweckten.
Soweit es darum gehe, ob die Vertragsklauseln eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV „bewirken“ könnten, müssten sämtliche Umstände berücksichtigt werden, die für den Zugang zum relevanten Markt bestimmend sind, um zu beurteilen, ob ein Mitbewerber in den Einzugsgebieten, in denen die von den Verträgen erfassten Einkaufszentren liegen, wirkliche und konkrete Möglichkeiten besitzt, dort u.a. durch die Belegung von Gewerbeflächen, die sich in anderen Einkaufszentren in diesen Gebieten befinden, oder durch die Belegung anderer Gewerbeflächen außerhalb dieser Zentren Fuß zu fassen. Nur dann, wenn festgestellt werde, dass der Zugang zum Markt durch die Gesamtheit aller gleichartigen Verträge erschwert werde, müsse geprüft werden, ob dies zu einer möglichen Abschottung des Marktes beitrage, wobei nur solche Vereinbarungen verboten seien, die zu einer erheblichen Abschottung beitragen könnten.
C. Kontext der Entscheidung
Das Kartellverbot des § 1 GWB ist im Zuge der 7. GWB-Novelle weitgehend an Art. 81 Abs. 1 EGV (nunmehr Art. 101 Abs. 1 AEUV) angeglichen worden. Deshalb sind nicht mehr allein Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen unter miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen (sog. horizontale Verhaltenskoordination), sondern darüber hinaus auch andere Konstellationen – insbesondere wettbewerbsbeeinträchtigende Abreden zwischen Angehörigen vor- und nachgelagerter Wirtschaftsstufen (sog. vertikale Verhaltenskoordination) – vom Kartellverbot des § 1 GWB erfasst. Insgesamt unterscheidet sich die nationale Regelung deshalb nur noch durch das Fehlen des Zwischenstaatlichkeitsbezugs und der Regelbeispiele von der auf europäischer Ebene maßgeblichen Vorschrift des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Geht man davon aus, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Entscheidung des EuGH auch in Deutschland zu berücksichtigen ist. Keinem Zweifel unterliegt es aber auch, dass vertragliche Regelungen der zugrunde liegenden Art nichts weiter beinhalten als eine dem Geschäftsraummietverhältnis immanente Konkurrenzschutzverpflichtung, wobei hier die Unterlassungsverpflichtung des Vermieters zur Fernhaltung unliebsamer Konkurrenz umformuliert worden ist zugunsten eines Anspruchs des Mieters auf Beteiligung bei der Vermietung an etwaige Konkurrenten.
Der kartellrechtlichen Beurteilung nach § 1 GWB sind diese Abreden allerdings nicht schon deswegen entzogen, weil sie Bestandteil von Mietverträgen und somit von Austauschverträgen sind. Denn nicht nur unmittelbar zwischen den Wettbewerbern abgeschlossenen Verträge können einen gemeinsamen Zweck i.S.d. Vorschrift verfolgen, sondern auch eine Mehrzahl von vertikalen Verträgen, die jeweils mit einem identischen Vertragspartner abgeschlossen worden sind (sog. Sternverträge, vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 02.03.1989 – 6 U (Kart) 68/87 – NJW-RR 1989, 1422). Allerdings hat die danach grundsätzliche Anwendbarkeit des § 1 GWB auf Wettbewerbsverbote in Austauschverträgen noch nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit der vertraglichen Regelungen zur Folge.
Wettbewerbsverbote sind in Austauschverträgen mit § 1 GWB vereinbar, wenn sie als dessen notwendige Nebenabrede erforderlich sind, um den Hauptzweck des als solchen kartellrechtsneutralen Vertrages zu verwirklichen. Dabei ist entscheidend, ob das Wettbewerbsverbot sachlich erforderlich und zeitlich, räumlich und gegenständlich darauf beschränkt ist, den mit dem Austauschvertrag verfolgten Zweck zu erreichen (BGH, Urt. v. 10.12.2008 – KZR 54/08 – NJW 2009, 1751, 1752; OLG Frankfurt, Urt. v. 02.03.1989 – 6 U (Kart) 68/87 – NJW-RR 1989, 1422, 1423). Bewegt sich das Wettbewerbsverbot innerhalb dieses Rahmens, liegt § 1 GWB schon tatbestandsmäßig nicht vor; das Kartellrecht kann grundsätzlich nicht verbieten, was nach dem Vertragsrecht geboten ist. Nach allgemeiner Meinung (vgl. nur Bub/Treier/Kraemer/Schüller/Ehlert, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Aufl., III B Rn. 2887 ff.; Eisenschmid in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 12. Aufl., Rn. 599 m.w.N.) ist der Vermieter von Geschäftsräumen auch ohne ausdrückliche vertragliche Vereinbarung verpflichtet, eine Vermietung an Konkurrenten des Mieters im selben Gebäudekomplex zu unterlassen. Die konkurrenzfreie Nutzung gehört zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache; ihre Verletzung stellt einen Sachmangel dar, der zur Minderung der Miete und ggf. auch zu Schadensersatzansprüchen gegen den Vermieter berechtigt. Das im Konkurrenzschutz liegende Wettbewerbsverbot ist somit für die Durchführung des Vertragszweckes unerlässlich; § 1 GWB greift deshalb nicht ein (OLG Frankfurt, a.a.O.).
D. Auswirkungen für die Praxis
Gibt man bei juris als Suchbegriffe „Konkurrenzschutzklausel“, „Mietvertrag“ und „GWB § 1“ ein, werden zwei Entscheidungen genannt: Neben der oben zitierten des OLG Frankfurt ein Urteil des OLG München vom 10.11.2010 – 20 U 2514/10. In der mietrechtlichen Praxis scheint die vom EuGH behandelte Problematik bisher keine Rolle gespielt zu haben, und zwar zu Recht, soweit es den vertragsimmanenten Konkurrenzschutz angeht. Das könnte sich ändern, wenn Mitbewerber geltend machen, dass ein für bestimmte Warenangebote ausdrücklich vereinbarter Konkurrenzschutz zu der vom EuGH angesprochenen Abschottung dieses Marktes und damit zu einem Verstoß gegen Art. 101 AEUV führt: Dann läge eine Ordnungswidrigkeit i.S.d. § 81 Abs. 1 GWB vor, die mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro bestraft werden könnte …