Nachfolgend ein Beitrag vom 12.5.2017 von Börstinghaus, jurisPR-BGHZivilR 9/2017 Anm. 2
Leitsätze
1. Dem Zweck des nach § 573 Abs. 3 BGB bestehenden Begründungserfordernisses wird bei einer Kündigung wegen Eigenbedarfs grundsätzlich durch die Angabe der Person, für die die Wohnung benötigt wird, und die Darlegung des Interesses, das diese Person an der Erlangung der Wohnung hat, genügt (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, zuletzt Urt. v. 23.09.2015 – VIII ZR 297/14 – NJW 2015, 3368 Rn. 11 f. m.w.N.). Dagegen muss die Begründung keine Ausführungen zu Räumlichkeiten enthalten, die für den Begünstigten alternativ als Wohnraum in Betracht kommen könnten.
2. Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehört es, dass die unter Beweis gestellte Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat. Das bedingt bei abwägungsrelevanten Umständen, dass diese grundsätzlich auch mit dem ihnen vom Behauptenden beigelegten Gewicht als wahr unterstellt werden (Fortführung des Senatsbeschlusses v. 11.10.2016 – VIII ZR 300/15 – NZM 2017, 23 Rn. 15).
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Dem Mieter steht nur dann ein Fortsetzungsanspruch gemäß § 574 BGB zu, wenn die Konsequenzen, die für ihn mit einem Umzug verbunden wären, sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben.
2. Die Gerichte können die Fortsetzung des Mietverhältnisses auch ohne entsprechen (Widerklage-)Antrag anordnen.
3. Dabei können sie Bedingungen festlegen, die den Interessen beider Parteien möglichst nahekommen. Hierzu kann auch eine Mieterhöhung oder die Kostenbeteiligung an Umbaukosten gehören.
A. Problemstellung
Bisher hat sich der BGH vor allem mit der Möglichkeit der Eigenbedarfskündigung beschäftigt und hier zum einen die Rechte der Vermieter im Ergebnis gestärkt, aber auch den Tatsachengerichten strenge Vorgaben bezüglich der Sachverhaltsaufklärung gemacht. Der Kündigungsschutz des sozialen Mietrechts ist aber vom Gesetzgeber dual ausgestaltet (so auch der Vortrag von Sternel auf dem Deutschen Mietgerichtstag 2017; herunterladbar unter www.mietgerichtstag.de). Das „zweite Standbein“ des dualen Kündigungsschutzes ist der Fortsetzungsanspruch des Mieters gemäß den §§ 574 ff. BGB. Er spielte in der Vergangenheit sowohl in der Instanzrechtsprechung, aber vor allem auch beim BGH eine zu vernachlässigende Rolle.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In der vorliegenden Entscheidung hat der Senat sich mit den materiellen, aber auch prozessualen Fragen des Fortsetzungsanspruchs beschäftigt, ohne diesen für die Praxis bedeutsameren Teil der Entscheidung in den Leitsätzen zu erwähnen.
Die beklagten Mieter sind seit 1997 Mieter einer Dreieinhalbzimmer-Erdgeschosswohnung. Der ursprüngliche Vermieter ist 2014 verstorben. Erbin ist u.a. die Klägerin. Seit Januar 2014 ist der Drittwiderbeklagte Eigentümer des Grundstücks. Er bewohnt mit seiner vierköpfigen Familie die Wohnung im Obergeschoss des Hauses. Im Dachgeschoss befinden sich weitere Räumlichkeiten, die bis in das Jahr 2010 von Dritten als Wohnung genutzt wurden und seither leer stehen. Der verstorbene ursprüngliche Vermieter kündigte, jeweils gestützt auf Eigenbedarf, das Mietverhältnis mehrfach, zuletzt im Januar 2014. Er begründete die Kündigung damit, dass die Erdgeschosswohnung vom Drittwiderbeklagten und seiner insgesamt vierköpfigen Familie benötigt werde; dieser beabsichtige, die Wohnungen im Obergeschoss und im Erdgeschoss zusammenzulegen, um zur Beseitigung der bislang beengten Wohnverhältnisse mehr Wohnraum für seine Familie zu schaffen. Der weitere Wohnraum werde benötigt, um der zweijährigen Tochter, die derzeit in dem nur 7,5 qm großen Ankleideteil des Schlafzimmers untergebracht sei, ein eigenes größeres Zimmer zur Verfügung zu stellen. Eine andere Aufteilung der Zimmer in der Wohnung sei aus Gründen der Krankheit von Familienangehörigen nicht möglich.
Die Mieter widersprachen der Kündigung und machten unter anderem geltend, der Drittwiderbeklagte könne mit seiner Familie alternativ die leer stehende Dachgeschosswohnung nutzen. Jedenfalls könnten sie die Fortsetzung des Mietverhältnisses aufgrund persönlicher Härte verlangen, da der im Jahre 1930 geborene Mieter zahlreiche gesundheitliche Einschränkungen habe und an einer beginnenden Demenz leide, die sich zu verschlimmern drohe, wenn er aus seiner gewohnten Umgebung gerissen würde. Sie haben deshalb gegen den Drittwiderbeklagten Wiederklage auf Fortsetzung des Mietverhältnisses erhoben. Die Vorinstanzen hatten der Räumungsklage stattgegeben.
Der BGH hat auf die zugelassene Revision das landgerichtliche Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Dabei ist er zunächst der Auffassung der Vorinstanzen gefolgt, wonach hier berechtigter Eigenbedarf, der eine Kündigung rechtfertigte, gegeben war.
Jedoch ist der Senat der Auffassung, dass die Instanzgerichte die Voraussetzungen eines eine Fortsetzung des Mietverhältnisses begründenden Härtegrundes nicht ausreichend geprüft hätten. Der Mieter kann nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Hierzu hätten die Tatsacheninstanzen eine gründliche und sorgfältige Sachverhaltsfeststellung vorzunehmen und die beiderseitigen Interessen zu gewichten und zu würdigen.
Dabei geht der Senat davon aus, dass die Konsequenzen, die für die Mieter mit einem Umzug verbunden wären, sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben müssen, um als tauglicher Härtegrund in Betracht zu kommen. Hier vermisst der Senat eine Abwägung und Gewichtung der von den Mietern angegebenen Gründe. Allein die Wahrunterstellung genüge keinesfalls. Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehöre, dass die Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat. Dies bedinge bei abwägungsrelevanten Umständen, dass sie grundsätzlich auch mit dem ihnen vom Behauptenden beigelegten Gewicht als wahr unterstellt würden. Hier hatten die Mieter für ihr Fortsetzungsbegehren entscheidend auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des mietenden Ehemannes, namentlich auf eine über die altersbedingte Gebrechlichkeit hinaus im Falle eines Wohnungsverlusts greifbar drohende demenzielle Orientierungslosigkeit und die daraus für ihn wie auch für ein weiteres eheliches Zusammenleben mit der mietenden Ehefrau resultierenden Folgen abgestellt. Der Senat vermisst im Berufungsurteil eine Auseinandersetzung mit der in diesem Sachvortrag zum Ausdruck kommenden existenziellen Bedeutung der bisherigen Wohnung und die Alternativlosigkeit ihrer Beibehaltung für die Mieter. Vielmehr habe die Wahrunterstellung durch das Landgericht diesem den Blick für das danach im Streitfall unabweisbar bestehende Erfordernis versperrt, sich ein in die Tiefe gehendes eigenständiges Bild von den auf ein Erfordernis zur Beibehaltung der bisherigen Wohnung hinweisenden Interessen der Beklagten zu verschaffen. Denn nicht zuletzt auch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass die Gerichte bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr verfassungsrechtlich gehalten sind, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, Beweisangeboten besonders sorgfältig nachzugehen sowie den daraus resultierenden Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen.
Mache ein Mieter derart schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels geltend, müssen sich die Gerichte bei Fehlen eigener, auch vorliegend nicht aufgezeigter Sachkunde mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen für den Mieter mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen erreichen können und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Erst dies versetze die Gerichte in einem solchen Fall in die Lage, die Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden sind, im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten.
Schließlich vermutet der Senat, dass das Landgericht dem Erlangungsinteresse der Vermieterseite ein zu großes Gewicht beigemessen hat. Denn für die Gewichtung des Vermieterinteresses an der Kündigung wegen Eigenbedarfs kann – anders als bei der Prüfung des Eigenbedarfs als solchem – im Rahmen des § 574 Abs. 1 BGB auch die Dringlichkeit des geltend gemachten Wohnbedarfs Bedeutung erlangen. Insoweit hätte sich die Überlegung aufgedrängt, dass es sich bei dem für die junge Familie geltend gemachten erhöhten Wohnbedarf eher um eine Erhöhung des „Wohnkomforts“ als um eine Beseitigung völlig unzureichender beengter Wohnverhältnisse handeln könnte. Zudem habe das Berufungsgericht verkannt, dass das Vorhandensein von Räumlichkeiten, mit denen für eine Übergangszeit der gesteigerte Wohnbedarf des Drittwiderbeklagten ganz oder teilweise befriedigt werden könnte, bei der Abwägung Berücksichtigung finden muss. Außerdem weist der Senat lebensnah darauf hin, dass wegen des Alters und des Gesundheitszustands der Mieter die Fortsetzung des Mietverhältnisses nur für einen unüberschaubaren Zeitraum in Betracht komme.
Der Senat weist dann in seiner „Segelanleitung“ für das weitere Verfahren darauf hin, dass die Gerichte auch ohne entsprechenden Widerklageantrag gemäß § 308a ZPO sehr weite Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Mietvertrages hätten. Sie sollten dabei das Mietverhältnis zu Bedingungen fortzusetzen, die den Interessen beider Parteien möglichst nahe kommen. So sei hier durchaus zu überlegen, ob zum Ausgleich der auf Vermieterseite bestehenden Nachteile eine Fortsetzung des Mietverhältnisses etwa auch unter moderater Erhöhung der Miete oder unter Zahlung einer angemessenen Kostenbeteiligung an der Umgestaltung des Dachgeschosses für die vorübergehende Nutzung durch den Drittwiderbeklagten und seine Familie in Betracht kommen könnte.
C. Kontext der Entscheidung
Der Senat hat damit durchaus den Weg zurück zu den Wurzeln des sozialen Mietrechts gefunden. Dieser besteht darin, dass der Vermieter ein Mietverhältnis grundsätzlich nur bei Vorliegen eines berechtigten Interessens kündigen kann. Hier haben sich die Gerichte regelmäßig einer Bewertung zu enthalten. Es hat allenfalls eine Missbrauchskontrolle stattzufinden. Außerdem sollen die Gerichte auch nicht alles glauben, was ihnen im Rahmen vor allem von Eigenbedarfskündigungen vorgetragen wird. Die Interessen der Mieter spielen aber auf dieser Ebene der Prüfung keine Rolle. Der historische Gesetzgeber hat dafür eine zweite Stufe vorgesehen. Im Rahmen der Sozialklausel kann der Mieter besondere Härtegründe vortragen, die dann wiederum mit den Interessen des Vermieters abzuwägen sind.
Hier wird das Gericht vertragsgestaltend tätig. Es kann gemäß § 308a ZPO die Vertragsbedingungen gänzlich neu gestalten. Hierzu gehört zunächst einmal die Frage, ob der Mietvertrag auf unbestimmte Zeit oder nur für eine bestimmte Zeit fortgesetzt wird. Ferner kann das Gericht die Höhe der Miete neu festlegen, die Zahlung einer Kaution anordnen, Betriebskostenvereinbarungen aktualisieren oder die Verpflichtung zur Durchführung der Schönheitsreparaturen neu formulieren. Der BGH geht sogar so weit, dass eine Kostenbeteiligung an Umbauarbeiten festgelegt werden könnte. Offengeblieben ist, ob das nur mit Zustimmung der Mieter gehen soll.
D. Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis könnte die Entscheidung eine Renaissance der Sozialklausel bedeuten. Die Praxis hat sich in der Vergangenheit in der Regel mit der Anordnung einer Räumungsfrist gemäß § 721 ZPO geholfen. Diese ist aber auf maximal ein Jahr beschränkt. Die Gerichte müssen die Anwendung der Sozialklausel auch ohne entsprechenden Antrag berücksichtigen.
Was die Höhe der Miete angeht, dürften die Beschränkungen der sog. „Mietpreisbremse“, also 110% der ortsüblichen Vergleichsmiete hier nicht gelten. Es geht nicht um einen neuen Mietvertrag sondern um die Fortsetzung eines bestehenden Vertrages. Da es sich also um eine Mieterhöhung aufgrund einer Vereinbarung handelt, löst diese jedoch die Jahressperrfrist aus und ist eine Kappungsgrenze anzurechnen.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der Senat hat im Übrigen festgestellt, dass das Kündigungsschreiben formell in Ordnung war. Der Zweck des Begründungserfordernisses bestehe darin, dem Mieter zum frühestmöglichen Zeitpunkt Klarheit über seine Rechtsposition zu verschaffen und ihn dadurch in die Lage zu versetzen, rechtzeitig alles Erforderliche zur Wahrung seiner Interessen zu veranlassen. Diesem Zweck würde im Allgemeinen Genüge getan, wenn das Kündigungsschreiben den Kündigungsgrund so bezeichnet, dass er identifiziert und von anderen Gründen unterschieden werden kann. Denn eine solche Konkretisierung ermögliche es dem Mieter, der die Kündigung nicht hinnehmen will, seine Verteidigung auf den angegebenen Kündigungsgrund auszurichten, dessen Auswechselung dem Vermieter durch das Begründungserfordernis gerade verwehrt werden soll. Dementsprechend sind bei einer Kündigung wegen Eigenbedarfs grundsätzlich die Angabe der Person, für die die Wohnung benötigt wird, und die Darlegung des Interesses, das diese Person an der Erlangung der Wohnung hat, ausreichend. Das Kündigungsschreiben musste demgegenüber keine Ausführungen zu den Räumlichkeiten im Dachgeschoss des Hauses und zu ihrer Nutzbarkeit durch den Drittwiderbeklagten enthalten. Denn das Begründungserfordernis diene nicht dazu, eine aus Sicht des Vermieters bestehende Alternativlosigkeit der Kündigung aufzuzeigen oder sonst den Mieter schon im Vorfeld eines etwaigen späteren Kündigungsprozesses auf rechtliche Verteidigungsmöglichkeiten hinzuweisen.